Wolfram Alpha – Matrix reloaded?

Gastbeitrag von Dr. Klaus Holthausen von Qimaya.de über den aktuellen Hype um Stephen Wolframs Projekt „Wolfram Alpha„.  Sicherlich ist bei Wolfram Alpha der Name bereits Teil des Programms. Der Mathematiker Stephen Wolfram ist ein Schwergewicht in der wissenschaftlichen Welt. Es ist durchaus damit zu rechnen, dass wir im Mai etwas Spektakuläres zu sehen bekommen. Eine Maschine, die Fragen beantworten kann! Schon mehr als 40 Jahre denkt man darüber nach, ob eines Tages eine Maschine denken kann. Es gibt sogar ein spezielles Testverfahren, das es erlauben soll, objektiv darüber zu entscheiden, ob eine Maschine tatsächlich intelligent ist (Turing Test). Allerdings hat die Angelegenheit einen Haken. Wolfram Alpha beruht – soweit man den Berichten entnehmen kann – auf symbolischer künstlicher Intelligent (KI). Die prinzipielle Begrenzung des symbolischen Ansatzes der KI hat H.L. Dreyfus einleuchtend dargestellt. Anschaulich unterscheidet man zwischen knowing-how und knowing-that. Eine typische knowing-that-Frage ist: „Wie hoch ist der Mount Everest?“ Ein derartiges Faktenwissen kann in der Tat durch symbolische KI gut abgebildet werden. Eine knowing-how-Frage hingegegen wäre: „Wie fühlt es sich an, wenn auf 6000 Meter Höhe die Luft dünner wird?“ Mit knowing-how ist das Handlungswissen gemeint, das sich nur in der tatsächlich durchgeführten Handlung zeigt. Das kontextabhängige, implizite Wissen kann durch symbolische KI nicht abgebildet werden. Prinzipiell nicht. Nun steht Stephen Wolfram für einen eher ungewöhnlichen Ansatz in der KI. Sehr verbreitet ist der Top-down-Ansatz, bei dem sehr allgemeine Regeln aufgestellt werden. Wolfram betrachtet das KI-Problem von einer ganz anderen Perspektive (Bottom-up). Eine der Wurzeln für das Projekt Wolfram Alpha ist die langjährige Forschung an zellularen Automaten. Das sind simple Recheneinheiten, die im einfachsten Fall nur den Zustand an/aus kennen. Man kann sich solche Zellularautomaten als ein schachbrettartiges Muster vorstellen, der Zustand „an“ wäre durch ein weißes und der Zustand „aus“ durch ein schwarzes Quadrat repräsentiert. Der Clou sind nun einfache Regeln, die das Schachbrett zum Leben erwecken. Eine Regel könnte zum Beispiel lauten: Eine Zelle wird dann aktiv, wenn mindestens zwei Nachbarn aktiv sind. So können durch einfache Regeln komplexe Selbstorganisationsprozesse entstehen. Von der Entstehung komplexer Strukturen auf Basis einfacher Regeln handelt Wolframs Buch „A new kind of science„. In diesem Buch vertritt Wolfram ein radikalen Standpunkt: Er geht davon aus, dass wir JEDEN wissenschaftlichen Prozess mit Zellularautomaten abbilden können. Zum Beispiel auch die Allgemeine Relativitätstheorie. Mehr noch: Wolfram sieht die Wissenschaft in einer Sackgasse. Die komplizierte Mathematik, die Relativitätstheorie und Quantenphysik zugrunde liegt, wäre lediglich ein unvollkommenes Konstrukt unseres Geistes. Vielleicht ist die Welt ja „in echt“ ein Zellularautomat. — Im Kino hat uns die Matrix-Trilogie ein derartiges Szenario vor Augen geführt — Dann wäre es richtig, Theoretische Astrophysik nur auf Basis von Zellularautomaten zu betreiben. Niemand müsste mehr Differentialgeometrie — oder andere schweißtreibende Sachen — studieren. Jedenfalls erläutert dies die Motivation des Titels „A new kind of science“. Eine Kostprobe des Selbstbewusstseins des Autors findet sich auf Seite 42 des oben genannten Buches. Wolfram stellt die Überlegung an, ob vielleicht eines Tages Archäologen bei den Babyloniern Schrifttafeln mit Mustern von Zellularautomaten finden. Nein, heißt es dann, das könne nicht sein. Denn: Hätte man damals schon Zellularautomaten gehabt, dann wäre unsere heutige Naturwissenschaft nicht zustande gekommen! Gibt es nun eine Möglichkeit, bereits vor dem Launch im Mai zu erahnen, was mit Wolfram Alpha auf uns zukommt? Auf Wolframs Blog findet man einen hilfreichen Hinweis. An einer Stelle ist von „curation of data“ die Rede. Dies führte mich zu einer Arbeitsgruppe aus Deutschland. Vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie stammt der Ansatz: „The design of a wiki-based curation system for the Ontology of Functions“ [PDF] Hier geht es um die Generierung medizinischen (und biologischen) Wissens und damit eigentlich einer Paradeaufgabe für Wolfram Alpha. Das MPI definiert eine Art Wissensfunktion für biologische Entitäten. Beispiele: hasFunction(transport O2, red blood cell,circulating system) und hasFunction(accumulate O2, red blood cell, respiratory system). Solche Funktionen werden mit der Absicht definiert, dass man zum Beispiel verschiedene Wikis kombinieren kann, Expertensysteme einbauen etc. In diesem Konzept spielt der Mensch eine große Rolle, der aktiv Ontologien nutzt und pflegt. Übrigens kann man heute schon mit dem MPI-System arbeiten und Eindrücke eines „intelligenten“ Retrievalsystems gewinnen. So weit so gut. Der MPI-Ansatz bindet den Menschen ausdrücklich ein („However, human intervention is required in order to clear noise from the generated data.„). Doch was wäre, wenn man solche Funktionen(x,y,z) als Teile eines selbstorganisierten Zellularautomaten definieren – und programmieren – könnte? Könnte dann Wissen VOLLAUTOMATISCH generiert werden? Das wäre verrückt, ambitioniert, genial und erstaunlich zugleich. Die daraus resultierende Maschine wäre allerdings nicht menschlich, nicht assoziativ und auch nicht fuzzy. Die resultierende Maschine berechnet sich ihre eigene Wahrheit. Sie setzt sich selbst in Geltung. Die Maschine würde ihre „data curation“ vielleicht mit der Wikipedia beginnen. Parteien, Kirchen und Künstler stehen später auf dem Speiseplan. — Zu dieser Vision passt übrigens ein prophetischer Text von Stanislaw Lem: Das Internetrisiko. Nun gibt es exakt zwei Möglichkeiten: Entweder ich irre mich und Wolfram Alpha ist ein JASE (just another search engine). Oder: Der kongeniale Stephen Wolfram hat tatsächlich eine Maschine gebaut, die wie oben beschrieben funktioniert. Dann kapituliere ich schon mal vorab und sage: Willkommen, Wolfram Alpha!

Die Netzpiloten nehmen immer mal wieder Gastpiloten mit an Bord, die über ihre Spezialthemen schreiben. Das kann dann ein Essay sein, ein Kommentar oder eine kleine Artikelserie.


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6 comments

  1. Ich freue mich, dass die totgeglaubte KI endlich wieder einen Helden hervorgebracht hat. Das Ganze erinnert mich noch immer an den Ansatz der Expertensysteme aus den späten Siebzigern. Leider ist keine neue Erkenntnis hinzugekommen. Faktenwissen und Handlungswissen derart zu trennen deutet darauf hin, dass Sie die Texte von Gilbert Ryle, die der Inflation dieses Begriffspaares zugrunde liegen, nicht kennen.

    Wolfram offenbar auch nicht. Weder durch Tripel noch durch Quadrupel wird eine Software in die Lage versetzt, mehr Antworten zu geben als ihr eingeimpft wurden.

    Der entscheidende Satz liegt hier: ”However, human intervention is required in order to clear noise from the generated data.“

    KI-Forscher werden erst dann einen entscheidenden Schritt weiter sein, wenn eine klare Definition des Unterschiedes zwischen Relevanz und Bedeutung in mathematisierter Form vorliegt. Davon ist in den nächsten 200 Jahren nicht auszugehen.

    Dann und nur dann könnte die entscheidende Aufgabe angegangen werden, die da heißt: Wie kann eine Maschine durch Beobachten von Handball-, Fußball- und Basketballspielen den Begriff des Mannschaftsgeists erschließen.

    Ich fürchte, dass niedere Intelligenzformen wie Schwarmintelligenz dazu nicht in der Lage sind, auch dann nicht, wenn 15 Trilliarden Zellurarautomaten zusammengeschaltet werden. Ich brauche bei meiner Skepsis gar nicht auf das Emergenzproblem einzugehen. Es wäre übrigens schön, wenn die KI-Forschung die Wissenschaftstheorie der letzten 40 Jahre wenigstens zur Kenntnis nehmen würde. Das könnte helfen, den pseudowissenschfatlichen Duktus in interdisziplinäre Bahnen zu lenken. Denn auch in den Wissenschaften ist schon lange Denken 2.0 eingekehrt. Nicht in allen, aber in viele. Warum eigentlich nicht bei der KI?

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